Partizipation ist ein Menschenrecht
Bereits 2019 hatten SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP die Einrichtung eines Inklusionsbeirats beantragt. Wie der Weg dahin aussehen könnte, haben jetzt die Teilnehmer und Teilnehmerinnen eines Workshops besprochen. Ein Ergebnis: die Stadt sollte zunächst eine Stelle für eine(n) Behindertenbeauftragte(n) schaffen.
Lengerich. Mit der klaren Empfehlung an die Stadt, auf dem Weg zum Inklusionsbeirat zunächst eine Stelle für eine(n) Behindertenbeauftragte(n) zu schaffen, ist Ende April ein Zukunftsworkshop zur Verbesserung der politischen Partizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen zu Ende gegangen. „Der Auftakt ist gemacht“, freut sich Dirk Vietmeier, Fachdienstleiter Soziales der Stadt Lengerich.
Bereits 2019 hatten SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP die Einrichtung eines Inklusionsbeirats beantragt. Merle Schmidt, Leiterin des Projekts „Politische Partizipation Passgenau“, das vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW im Rahmen der Landesinitiative „NRW inklusiv“ gefördert wird, und Referentin Lisa Jacobi stellten sich und das Angebot des Projekts „Politische Partizipation Passgenau!“ zu Beginn des von ihnen geleiteten Workshops vor: Spätestens seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland im Jahr 2009 sei der gesellschaftliche und politische Auftrag klar: Inklusion und Partizipation, die zentralen Leitgedanken der UN-BRK, müssten umgesetzt werden. Die Gesellschaft müsse sich langfristig so verändern, dass alle Menschen gleichberechtigt und umfassend am öffentlichen Leben teilhaben könnten.
Die Veränderungen, die notwendig seien, um Barrieren a auch auf abzubauen, müssten insbesondere auch auf kommunaler Ebene, in den Städten, Gemeinden und Kreisen vollzogen werden. Denn dort sei die Wirkung am unmittelbarsten für den Alltag und die Lebensrealität der Menschen; dort finde ihr alltägliches Leben statt. Daher sei eine Einbindung der Menschen mit Behinderungen als Expertinnen und Experten in eigener Sache unumgänglich. Das Landesprojekt „Politische Partizipation Passgenau“ unterstütze NRW-Kommunen dabei, Wege und Lösungen zu finden, wie politische Partizipation in der Kommunalpolitik im Sinne der UN-BRK ermöglicht werden kann. Dabei stehe von Anfang an der enge Austausch aller Beteiligten im Fokus. Partizipation, erläuterte Merle Schmidt, bedeute, dazu zu gehören, dabei zu sein und vor allem: sich zu beteiligen und aktiv mitzugestalten und mitzuentscheiden. Für Menschen mit Behinderungen jeden Alters und Angehörige in Lengerich bedeute das, dass ihre spezifischen Interessen, Bedarfe und Anliegen in den politischen Entscheidungen des Stadtrates ausreichend berücksichtigt würden. Politik und Verwaltung müssten allerdings diese Interessen, Anliegen, Bedarfe der Betroffenen gut kennen, um sie berücksichtigen zu können.
Da bestimmte Bevölkerungsgruppen, wie Menschen mit Behinderungen aber strukturell weniger Chancen hätten, auf den allgemeinen politischen Wegen gleichberechtigt teilzuhaben (also beispielsweise in den Stadtrat gewählt zu werden), brauche es derzeit besondere Formen politischer Interessenvertretung, bis die allgemeinen Strukturen sich irgendwann so verändert hätten, dass man von einer tatsächlich inklusiven Politiklandschaft sprechen könne und die Parlamente auf allen politischen Ebenen den Querschnitt ihrer Bevölkerung widerspiegelten. Partizipation, oder eben das
„Der Auftakt ist gemacht.“ Dirk Vietmeier, Leiter Fachdienst Soziales der Stadt Lengerich
Recht, überall wirksam teilhaben zu können, sei ein Menschenrecht und gehöre zu einer funktionierenden Demokratie.
Bei der Analyse der Ist-Situation machten sich die Workshop-Teilnehmer die sogenannte siebenstufige Partizipationstreppe zunutze. Ergebnis: die Mehrheit der Teilnehmenden ist der Ansicht, dass die erste „Treppenstufe“ bereits genommen und damit in Lengerich zumindest die Grundlage für politische Partizipation gegeben ist. So bemerkte ein Teilnehmer, dass man sich politisch informieren könne, räumte aber auch ein, dass keine strukturierte oder formalisierte politische Beteiligung für Menschen mit Behinderungen stattfinde. Eine Teilnehmerin erklärte, dass die Politik zwar versuche, Informationen in die Bevölkerung zu geben, der Informationsfluss aber auch an Grenzen stoße und dass nicht alle Informationen barrierefrei auffindbar, zugänglich und nutzbar seien. Seitens der Fraktionen im Stadtrat gebe es ihrer Meinung nach den geeinten Wunsch, sich Expertise von Menschen mit Behinderungen einzuholen. So werde der gemeinsame Antrag von SPD, Grünen und FDP, einen Inklusionsbeirat zu gründen, auch von allen mitgetragen.
In einer Diskussion wurde deutlich, dass es in Lengerich zwar eine Einladungskultur gibt, die Politik den Bürgern gerne zuhört, diese aber wenig bis keine Motivation zeigen, sich zu beteiligen. Das allerdings sei ein generelles Problem, unabhängig vom Vorliegen einer Behinderung. Beteiligung brauche auch Mut und die Politik in Lengerich, sei, so die Ansicht einiger Teilnehmender, nicht „Mut-machend“ unterwegs. Der Stadtrat habe eine demotivierende Ausstrahlung. Wenn etwa Beschlüsse gefasst würden, die die Rechte und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen schwächten statt stärkten oder Vorlagen nicht hinsichtlich der Auswirkungen auf die Belange von Menschen mit Behinderungen geprüft würden, sei es nicht verwunderlich, dass die Bereitschaft zur Beteiligung und zur Gesprächsaufnahme gering sei.
Ganz konkret sprach sich das Plenum schließlich dafür aus, perspektivisch einen Beirat einzurichten, ein Gremium, in dem alle kommunalen Themen, die den Mitgliedern hinsichtlich der Belange von Menschen mit Behinderungen relevant erscheinen, beraten und bearbeitet werden. In einem Beirat arbeiten Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, unterschiedlichem Alter, Geschlecht, usw. zusammen. Behindertenbeauftragte haben eine beratende Funktion und agieren als Bindeglied zur Verwaltung. Die Kommune informiert den Beirat rechtzeitig über alle Vorhaben. Der Beirat kann dann beurteilen, ob die Belange von Menschen mit Behinderungen berührt sind. Nach den Vorstellungen der Workshop-Teilnehmer soll es für den Beirat, der unter anderem frühzeitig in Planungen eingebunden werden und in den Fachausschüssen des Stadtrates ein Rede- und Antragsrecht bekommen soll - schon im nächsten Haushalt - ein Budget geben.
Eine Vorbereitungsgruppe, bestehend aus Holger Paaschen, Detlef Kipp, Sandra Kätker, Markus Wiegand, Katharina Heinze, einer Person aus der Verwaltung und einer Person aus der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) des Kreises Steinfurt, sondiert nun Satzungsbeispiele anderer Beiräte, passt sie auf die Situation in Lengerich an und erstellt, wie Dirk Vietmeier mitteilt, am 18. Mai um 17:30 Uhr in den Räumen der Stadtverwaltung einen Satzungsentwurf. Der endgültige Entwurf soll bis zu den Sommerferien vorliegen.
Von Joke Brocker
Ein Teil der Mitglieder des Workshops zur Bildung eines Inklusionsbeirates (v.l.): Merle Schmidt (LAG Selbsthilfe NRW e.V.), Tamara Brinkmann (Lernen fördern), Klaus Hahn (Reha GmbH), Sandra Kätker (Bündnis 90/Die Grünen), Stefan Zimmermann (Diakonie WesT), Detlef Kipp, Bärbel Brengelmann-Teepe (Der Paritätische), Achim Glörfeld (Deutsches Rotes Kreuz), Jan-Hendrik Gang (EUTB im Kreis Steinfurt), Marcus Wiegand, Holger Paaschen, Maria Kießling, Dirk Vietmeier (Leiter Fachdienst Soziales der Stadt Lengerich), Hans-Jürgen Kießling, verdeckt: Claudia Nink (Schwerbehindertenvertretung Stadt Lengerich) und Daniela Dirksmeier (stellvertretende Leiterin Fachdienst Soziales der Stadt Lengerich). Foto: Stadt Lengerich Lengerich.
- Westfälische Nachrichten, 18.05.2022 -