Beruf und Pflege

Charta unterzeichnet

Lernen fördern

Presseartikel IVZ, 01.11.2022, Tobias Vieth

 

Gleichzeitig arbeiten und einen pflegenden Angehörigen versorgen - das führt zu einer hohen Belastung und vielen Fragen. Der Unternehmensverbund Lernen fördern hat sich ausdrücklich verpflichtet, dafür Hilfe anzubieten und die Charta zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege in Nordrhein-Westfalen unterzeichnet. "Pflege-Guide" Claudia Wagner und Vorstandssprecherin Andrea Rüter erklären im Interview mit unserem Redakteur Tobia Vieth worum es dabei geht.

 

Sie haben die Charta zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege unterzeichnet. Was war der Auslöser?
Andrea Rüter:
Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ist seit 2013 hier im Unternehmen im Fokus. Für uns als neuer Vorstand war es einfach wichtig, das zu unterstreichen. Diese Charta ist ein recht neues Angebot. Wir haben gesagt: Das ist genau das Richtige, um sich zu bekennen, um uns zu verpflichten, dieses Thema im Unternehmen weiter aufrecht zu erhalten.

Was macht denn genau ein Pflegeguide?
Claudia Wagner: Ein Pflegeguide ist Ansprechpartner für die ganze Belegschaft. Ich werde angesprochen von Vorgesetzten, von Mitarbeitern und Kollegen aus dem Unternehmensverbund. Entweder, weil sich bei Kolleg:innen in Sachen Pflege etwas anbahnt. Oder, häufig ist es ein Pflegenotfall – jemand aus der Familie ist plötzlich gestürzt oder erkrankt. Die Kolleginnen und Kollegen müssen dann zu Hause vieles organisieren und erledigen. Zunächst kann ich dann zuhören. Das ist das Erste, weil viele Fragen und Unsicherheiten auf den Menschen lasten. Dann geht es um Tipps, Kontaktadressen, die Möglichkeiten des Betriebes. Dazu haben wir Betriebsvereinbarungen, aber es gibt auch gesetzliche Möglichkeiten. Wir können keine Pflegeberatung durchführen. Dafür gibt es Spezialisten.

Welche Fragen haben die Mitarbeiter ganz konkret?
Wagner: Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem, wie stark die Betroffenheit ist. Wenn es ein Notfall ist, muss man ja direkt reagieren.

Rüter: Wenn ein Mitarbeiter in einer akuten Pflege-Notsituation ist, dann ist er in der Regel sehr belastet. Zeitlich belastet, weil er weiß, er muss erst einmal alles irgendwie auf den Weg bringen, und auch gar nicht so genau weiß, was er auf den Weg bringen muss. Das ist der eine Punkt. Der andere ist die mentale Belastung, an der unsere Pflegeguides durch Zuhören ansetzen. Zusätzlich bieten wir Mitarbeitenden in einer akuten Pflegesituation zwei Tage bezahlte Freistellung an. Dieses Angebot ist ja sicherlich kein Selbstzweck.

Was bringt es dem Unternehmen?
Rüter: Es ist uns wichtig, in einer akuten Notsituation zu signalisieren: Wir stehen an eurer Seite. Die mentale Belastung ist schon sehr groß. Und da ist es beruhigend, wenn der Arbeitgeber das mitträgt,  ebenso wie die Kollegen. Das entspannt und sorgt dafür, dass der Mitarbeiter seinen Job so gut es geht weitermachen kann.

Der Bedarf dafür nimmt zu?
Wagner: Ja, dieses Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege nimmt zu. Die Berufstätigkeit in den Familien hat sicherlich zugenommen und auch die "Pflege auf Distanz" wird mehr zum Thema. Wir werden mehr angesprochen, weil das Angebot der betrieblichen Pflegeguides bekannter geworden ist. Manchmal werde ich einmal im Monat angerufen, manchmal häuft sich das so, dass ich in einer Woche vier oder sechs Kontakte habe.

Rüter: Dass die Häufigkeit zunimmt, ist letztlich ja nicht verwunderlich. Durch den demografischen Wandel wird der Bedarf weiter steigen. Als Arbeitgeber ist es richtig, darauf zu reagieren. Wir haben zwei Pflegeguides 2013 ausgebildet und werden jetzt noch einmal zwei weitere ausbilden. Was lernen Sie denn in dieser Ausbildung? Wagner: Die Fortbildung ist breit aufgestellt. Einmal geht es um die gesetzlichen Möglichkeiten, wie das Familienpflegezeitgesetz. Dann werden Themen angesprochen wie: Wo finden die Betroffenen welche Unterstützung? z.B. die zuständigen Pflegeberatungsstellen. Die Inhalte und Ziele des „Pflegekoffers“ (Beratungshilfen), der den Pflegeguides zur Verfügung gestellt wird, werden vorgestellt. Es werden aber auch mögliche betriebliche Lösungsansätze erörtert und die Notwendigkeit der Netzwerkarbeit dargestellt. Auch Grundlagen der Gesprächsführung werden angerissen. Warum haben Sie sich entschieden, das zu tun? Wagner: Eine persönliche Betroffenheit ist häufig der Grund, so war es auch bei mir.

Gibt es denn gesamtgesellschaftlich ein Informationsdefizit rund um die Möglichkeiten, die man bei Pflege hat?
Wagner: Ja. Gibt es. Wir setzen uns häufig erst mit dem Thema Pflege auseinander, wenn es akut ansteht, wenn wir persönlich betroffen sind. Erst dann merken wir, dass wir kaum Informationen über Möglichkeiten und Hilfen kennen, um Beruf und Pflege miteinander zu vereinbaren.

Haben Sie im Zuge des ganzen Prozesses Teilzeitmodelle verändert oder andere Dinge vereinfacht?
Rüter: Wir haben über 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, überwiegend Frauen, davon sind 65 bis 70 Prozent in Teilzeit. Ich glaube, wir haben alle Teilzeitmodelle, die es gibt. Letzten Endes geht es einfach darum, in so einer Situation den Mitarbeitenden entgegen zu kommen. Das ist sehr individuell.